'Es gibt die Wirklichkeit, ihr Knaben, und an der ist nicht zu rütteln.
Wahrheiten aber, nämlich in Worten ausgedrückte Meinungen über das Wirkliche, gibt es unzählige, und jede ist ebenso richtig, wie sie falsch ist.'
Hermann Hesse
Jeder von uns lebt gleichzeitig in zwei Welten, untrennbar in der wahren Welt Gottes, der Unendlichkeit des Alls, und in der eigenen begrenzten Weltsicht, die unser Ego erschaffen hat und die nach magnetischen Prinzipien unsere unmittelbare Umgebung spiegelt. Die meisten Menschen fühlen, dass äußere Erscheinungen nicht wirkliches Leben sind, sondern nur einen Teil davon ausdrücken, sichtbar machen. Dieser Ausdruck kann als Gleichnis dienen, das der Wirklichkeit im Innern eine Tür zu öffnen vermag. Wie in jedem Samen bereits vollkommen das gesamte Werden und Vergehen veranlagt ist, so sind alle Erscheinungen ein Bild ihrer Schöpfungsidee, ihrer Ursubstanz, in ihrer momentanen Entwicklung.
Wer nach dem Lebendigen hinter dem Bild fragt, dem öffnet sich der Blick in das, was wirklich ist.
Wolken am Himmel spiegeln solch einem Betrachter heutiges soziales Leben. Rastlos sind sie, immer getrieben, lösen sich auf und bilden sich neu, werden von Winden bewegt, von Blitzen erschüttert, kristallisieren, schneien und regnen sich ab, sammeln sich in Flüssen zu Meeren, verdunsten, steigen erneut auf, vereinen sich in Tröpfchen zu Wolkengebilden, die ihre Schatten auf die Erde werfen.
Ein Blick auf das Wasser spiegelt den Himmel und denjenigen, der darauf schaut. Manche sind davon berauscht und geben sich der Illusion hin, dass sie alles sehen. Manche aber ahnen, dass sie nur in einen Spiegel schauen und dass das wirkliche Leben, das wahre Wirken des Alls, sich nur in einem Aspekt ausdrückt und Anregung bietet, um zu hinterfragen.
Wer dieser Ahnung folgt, dem öffnet sich ein Tor, hinter dem es keine Zeit und keinen Tod gibt. Wer durch dieses Tor zu gehen vermag, gibt gern den schönen Schein dahin für seine geahnte Wirklichkeit und ihre Existenz wird ihm zur Gewissheit.
Hier ist nur Sein, harmonisch und friedvoll. Hier bietet sich Freude und grenzenlose Liebe an.
Und dennoch, ohne Wolken, kein Regen, ohne Regen, keine Fruchtbarkeit, ohne Fruchtbarkeit keine Ernährung, ohne Ernährung kein Leben auf Erden, ohne Leben auf Erden keine Pflanzen, keine Tiere, keine Menschen, ohne Menschen kein Bewusstsein. Ohne Bewusstsein aber gibt es keine Kenntnis von der unendlichen Liebe Gottes.
Wer einmal durch dieses Tor gegangen ist, dem wird seine Sehnsucht nach seiner ewig vorhandenen Vollkommenheit bewusster. Die zu erreichen, weiß er jetzt, gelingt ihm nur, wenn er sie aus sich heraus entwickelt. Niemand ist in Wirklichkeit unvollkommen, nur Meinungen sind es. Jeder hat wie ein Same den heilen Abdruck seines wahren Selbstes und alles, was er zu seiner Entwicklung braucht, in sich. Im Kern seines Herzens wirkt das individuelle vollkommene Bild seines Lebens gemäß des göttlichen Ursprungs. Nur persönliche verneinende Entscheidungen können den Menschen davon trennen.
Wer das fühlt, beginnt seine Wünsche aufzugeben, Besseres erreichen zu wollen. Alles Habenwollen ist eine Ausrichtung auf einen persönlich ausgemachten Mangel, den es im All, in Gott nicht gibt. Mangel beseitigen zu wollen, ist wie das Fassen nach dem Nicht-Sein, ist illusorisches Streben. Wer das erkennt, sieht wie seine Meinungen ihn begrenzen, seine Selbsttäuschungen ihn in die Irre leiten, seine Illusionen ihn fesseln. Er sieht wie er mit Vorstellungen Ängste weckt, die Macht über ihn gewinnen, ihn beherrschen können. Er fühlt sich wie in einem Sog mitgerissen, ausgeliefert, eingeengt.
Er sehnt sich nach Freiheit, nach Harmonie, nach Frieden. Dahin strebt er. Er beginnt sich zu bewegen, zu kämpfen, zu strampeln, sich gegen heftigen emotionalen Strom zu wehren, bis er merkt, dass das nur Schmerzen, Krämpfe verursacht.
Er sinnt nach anderen Taktiken und findet letztendlich Erlösung durch Ergeben, durch widerstandslos sein. Dadurch fühlt er sich gelöst und beginnt das Mitströmen zu genießen. Es geht nur um das Sich-lebendig-Fühlen. Er bemerkt, wie die Täuschungen seiner aufgebauten Scheinwelt weichen, Ängste und empfundene Grenzen schwinden. Er spürt eine zuvor ungeahnte Lebendigkeit in sich. Freude erfüllt ihn und er begreift, dass es ihm gut geht, wenn er einfach an seinem Eigenwillen nicht festhält und sich dem Strom des Seins ergibt in der unabänderlichen Wirklichkeit, in der Liebe Gottes.
Er sieht seine Mitmenschen an wie sich selbst, kämpfend oder mitschwimmend, unglücklich oder glücklich, in Netzwerken aus Gewohnheiten, persönlichen Meinungen, Verboten, Abgrenzungen verstrickt oder frei verantwortlich lebend, es gibt doch alles und alle Kombinationen. Er erkennt, dass vermeintliche Schwierigkeiten und Probleme nur Ängste ausdrücken.
Von denen vermag er sich selbst zu trennen, wenn er nichts mehr in der Scheinwelt erreichen will, sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt.
Er ist nur ein Tropfen im Wasser, ein Strahl im Licht, ein Ton im Sphärenklang, eine Seele im Geistigen, eine Zelle Gottes.
Aber das ist er wirklich!
maria goras
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